Jazzthetik märz 1996
She-yeh-yeh, she-yeh-yeh-yeh, dybia, dybia, dybia, dybia. (Bossa V)
She-yeh-yeh. she-yeh-yeh-yeh, pyrta, pyria, byria, byria. (Leonid Soybelman)NE ZHDALI
Das haben sie nicht erwartet! Selten hat ein Bandname so gut gepaßt wie bei dieser atemberaubenden, russischsprachigen Band aus Estland. Sie klingen wie eine vollends durchgeknallte Dorfblaskapelle, die sich den Kasatschok im Hardcore-Re-Mix vorgenommen hat. Hey, Driver, cool down the Horses!!! heißt ihre letzte CD und sie werden garantiert noch mächtig Staub aufwirbeln, prophezeit Hans-Jürgen Lenhart, der mit ihrem Leader Leonid Soybelman sprach. Ne Zhdali, das sind sechs verrückte Musiker, die das Potential haben, die gesamte Musikszene von Noise bis Art-Rock. Punkjazz bis sonstwas auf den Kopf zu stellen. Einfach, weil sie sich in ihrer estländischen Enklave trendfrei entwickeln konnten und absolut unverbraucht klingen. Ihr Geheimnis? Rhinozerose - eine Art musikalisches Vorbild.
"Der Name Ne Zhdali bedeutet Das haben sie nicht erwartet und bezicht sich aut ein traditionelles Familienbild llya Repins, einem russischer Maler des vergangenen Jahrhunderts, welches die Ankunft eines heruntergekommenen Mannes in einer völlig überraschten Familie zeigt. Wir faden es in einem russischen Schulbuch. Von diesem Namen gehl eine enorme Kraft aus. Er hat was mit unserer Kultur zu tun und er ist prägnant. Niemand hat uns erwartet. Namen beeinflussen manchmal einen selbst."
Soweit Leonid Soybelman, einer der aufregendsten Gitarristen, die je an mein Ohr gedrungen sind, und zugleich Sänger der Band, die sich Ne schdali ausspricht. Wäre er in der Athmosphäre der New Yorker Noiseszene aufgewachsen, gälte er vielleicht längst als eine Master-mind-Figur á la John Zorn, der heute ja allein schon als Qualilätsbeweis eines Albums erwähnt wird, wenn er nur mal in der Kaffeepause einer Produktion vorbeigeschaut hat. Aber in Tallinn/Estland aufgewachsen zu sein, ist etwas ganz anderes. Als Angehörige der russischen Minderheit in einem Kleinstaat, der seine Unabhängigkeit zwischen Fanatismus und Naivität entwickelt, ist die Wahrung der eigenen Identität mittels einer besonders individuellen Ausdrucksform bei Ne Zhdali überlebenswichtig. Als Heimatlose sind sie automatisch auch musikalische Grenzgänger und stilistische Niemandslandler.
"Das Hauptproblem ist, ordentliche Papiere zu bekommen. Nur zwei von uns haben zum Beispiel die estnische Staatsbürgerschaft. Ich habe hier lediglich den alten Paß der Sovjetunion, einem nicht mehr existierendem Land. Also existiere ich scheinbar auch nicht. Für Musiker, die reisen wollen, ist das natürlich ein Problem. Wir sind Nomaden geworden. In Tallinn werden wir im Grunde als ausländische Band betrachtet. Wir schreiben da zwar unsere Musik, aber die meiste Zeit touren wir im Ausland, sind also kaum Teil der estländischen Musikszene. Wir jobben und können nur am Wochenende spielen. Als Russe in Estland ist es schwierig, Jobs zu kriegen und als Musiker wirst du auch schon mal ohne Begründung für einen Auftritt abgelehnt."
Und trotzdem war ex vielleicht gut so, daß Ne Zhdali ihr irritierendes Konzept ausgerechnet in Estland reallisierten. Selten hatte ich den Eindruck, Musik zu hören, die so bar jeder Vorbilder, absolut eigenständig ist. Ein Phänomen, das man übrigens bei einigen osteuropäischen Undergroundbands feststellen kann, die aus ihrer extremen gesellschaftlichen Isolation heraus oft imensiver als manche westlichen Bands weltmarktunabhängig ihre Wurzeln und künstlerische Freiheit suchen müssen. Oft klingen solche Bands eigentümlich verquer. Ihr Avantgardismus ist nicht als der übliche direkte Kontrast zum Mainstreampop zu verstehen, sie haben oft nicht diesen Gegenpol - eher haben sie gesellschaftliche Widersacher wie Kultusbürokraten. Sie sind nur sie selbst und kümmern sich dennoch um alles Mögliche. Nicht gezielt, eher spontan. Bei Ne Zhdali ist das Zirkusmusik und Folklore, Punk und Bossa Nova, Free Jazz und... Manchmal wirken sie wie die Artrockausgabe der Leningrad Cowboys, dann wie eine Mischung aus Willem Breuker Kollektief und Frank Zappa. Aber lassen wir die unnützen Schubladenspielchen. In Wirklichkeit spielen sie ".,.Surf-Music. Keinen estnischen Surf. Ne Zhdali-Surf. Am Anfang waren wir vom Artrock beeinflußt und mit jedem Auftritt haben wir versucht, eine dramaturgische Erfahrung zu bieten. Wir unterscheiden uns jedenfalls sehr von herkömmlicher Rockmusik," interpretiert Soybelman schalkhaft.
Das mag immer noch nicht genügen, man muß sie gehört haben. Am betten steigt man mit Rhino l, der ersten Verrücktheit Ihres ersten Wahnsinns-in-Scheiben-form Rhinozeroses and other forms of life von 1989 ein: Didge-ridoo-Gedröhne leitet eine durch einen Punkrhythmus angetriebene Einmarschmusik ein, urplötzlich bleibt die Musik in einem imaginären Hintergrund hängen.
Die Band blabbert wildes Zeug vor sich her. Dann ein slakkatohafter Break, Jazzrhythmen werden angedeutet, ein Männerchor scheint zu proben, wieder ein wilder Break mit Gesang, bei dem sich Soybelman gegen die Gurgel schlägt. Wildes Getrommel beendet das Stück. Der nächste Song, Bossa, stellt ein Motiv vor, das auf der Platte in steter Verwandlung immer wiederkehrt. Aber auch hier variiert die Melodie schon von der besinnlichen Einleitung mit verschleppter akustischer Gitarre bis zum wildem Einschlagen auf E-Gitarrensaiten mit stampfenden Rhythmen, wobei das Ganze immer noch ein schunkeliger Bossa Nova bleibt. Ne Zhdali - Das hat keiner erwartet. Jedes Stück wirkt anders; nichts, was man gerade hört, laßt Rückschlüsse zu, wie der nächste Song klingen kann oder wie es in den nächsten drei Sekunden weitergehen wird. Immer wieder tauchen kurze Melodiefetzen aus vorherigen Stücken auf. Ihre Ideen scheinen unerschöpflich.
"Rhino bezieht sich auf die kraftvollen rhythmischen Strukturen. die wir Rhinozerose nennen. Und Bossa ist eine immer wiederkehrende Melodie in Varianten. Diese Idee zeigt unseren konzeptionellen Einfluß."
Doch zur Musik gehört auch ihre wilde Bühnenpräsenz. Früher traten sie in bunten Seidenkostümen auf, der Schlagzeuger Vitaly Redchits trommelte u.a. auf einem Stuhl und einem riesigen Glockenspiel.
"Das war ein Tribut an unsere Zeit als Theatermusiker. Da haben viele drüber gerätselt: Ist das estnische Folklore oder sind wir tibetanische Mönche oder was? Aber das war einfach nur so. Natürlich haben wir die Legende etwas am Leben erhalten. Jetzt sind da nur noch Fetzen übriggeblieben. Aus der Zeit haben wir noch das Glockenspiel, aber das ist auch schon ziemlich abgewrackt und taugt lediglich für ein Stück pro Auftritt."
Auch der Tourbus miterheblicher Schlagseite, in dem ich die Band auf der Durchreise an einer Autobahnraststätte treffe, ähnelt schon einer Unglücks-Fähre. Die Hälfte schläft Schicht, weil man nach einem Konzert in Süddeutschland direkt noch in der Nacht zum nächsten Gig in die Lüneburger Heide fuhr. Gegründet haben sich Ne Zhdali 1987. Gekannt schon länger.
"Das russische Staatstheater in Tallinn suchte einige Musiker zur Untermalung einiger Aufführungen. Das war eine gute Gelegenheit für mich und einige befreundete Musiker, und so kam es zu unserer Formation, die bald über diese Arbeit hinauswuchs. Dann holte uns 1988 Nick Hopps aus London für ein großes Festival in Glasgow. Dieser Gig war auch das Ende unseres Jobs an der Bühne. Die konnten keine tourende Band gebrauchen. 1989 reisten wir für ein einziges Konzert nach Amsterdam. Dort sah uns der Holländer Frank Noonman und buchte uns spontan für eine ganze Tour. Darüber bekamen wir Kontakt zu Dolf, in Holland eine Legende, der das ADM-Label betreibt, wo so Bands wie The Ex oder Dull Schicksal vertreten sind. Er lud uns zu kostenlosen Plattenaufnahmen mit genügend Studiozeit ein. Das war unsere erste Scheibe Rhinoceros and other things. Jetzt machen wir dort demnächst auch unser drittes Album. "
Dolf managt übrigens die europäischen Knitting Factory Tours. Die richtige Ecke war also schon mal gefunden. Inzwischen sind Ne Zhdali vom Performance-Konzept etwas abgekommen und konzentrieren sich mehr auf das musikalische Konzept.
"Wir spielen komponierte Musik, bringen dabei Stück für Stück zu einer zerbrechlichen Struktur zusammen. Am spannendsten ist es, wenn scheinbar unverbindbare Elemente in einem Freiraum zusammenkommen und dabei eine verrückte Atmosphäre erzeugen. Aber wenn wir Folkoreanleihen machen, ist das nicht ironisch gemeint. Eine gewisse Distanz ist drin, aber es geht eher um künstlerische Freiheit. Wenn uns eine Volksmelodie gefällt, dann wird sie eben genommen. Übrigens nicht unbedingt estnische Folklore. Wir versuchen uns auch an Melodien aus dem Balkan oder arabischen Klängen."
Der Umgang mit Folklore wird insbesondere bei Soybelmans 94er Solo-CD juliki deutlich. Er konnte den russischen k & k (Kalinka- und Kosaken-) Kitsch im Radio nicht mehr ab und spielte seine deranged music of Eastern Europe mit Musikern unterschiedlichster Couleur aus der französischen Schweiz ein. Doch stall funpunkmäßiger Parodie schöpft er einerseits genauso aus der musikalischen Kraft mancher folkloristischer Perlen, wie er ihre Klischees an anderer Stelle zu einem kreativen, energetischen Geniestreich verzerrt. Die armen Kalinkas werden gestreßt und gejazzt, gebluest und geblasen, daß die Fetzen fliegen. Das sind wirklich zehn Schritte weiter als das schüchterne, kurze Öffnen des Zitatenschatzes, mit dem in unseren Gefilden vielleicht mal (wenn überhaupt) die eigene musikalische Tradition aufgearbeitet wird. Mit seinem Meilenstein ethnischer Guerillamusik wirkt Soybelman wie eine Art großes östliches Spiegelbild zu John Zorn. Ne Zhdali selbst werden auch ähnlich stilübergreifend wahrgenommen.
"Vor fünf Jahren wurden wir in Europa als progressive Jazzer gehandelt, inzwischen tauchen wir in Clubs auf, die eher Hardcoregruppen engagieren. Die mögen uns wegen unseres Speeds. Aber letztlich ist es uns egal, wo wir ein Engagement bekommen. In den Punkschuppen ist vielleicht etwas mehr los."
Von Punk bis Worldmusic, sie bieten im Grunde alles. Erstaunlich, wenn man bedenkt, wie schwer der Zugang zur Musik dieser Welt in Estland bisher war.
"Vor 1988 waren die Seeleute diejenigen, die ausländische Musik nach Estland brachten. Das war genauso wie in Liverpool zu Beginn der Beatzeit. Tallinn liegt auch nicht weil von Helsinki und wir empfangen das finnische Fernsehen. Das war unser Tor zur westlichen Welt. Aber rüber konnten wir natürlich nicht. Bis zur politischen Wende lief da gar nichts an Ausreise- oder Tourneemöglichkeiten im Ausland."
Um so größer war die Neugier danach. Zum Glück ging diese aber nicht in die Richtung des Gängigen, mit dem der Westen inzwischen auch den letzten Winkel der Erde infiltriert, was auf Russlands Musikszene, zu der Ne Zhdali am ehesten gehört, natürlich längst auch zutrifft.
"Die russische Rockszene entwickelt sich genauso wie im Westen: ziemlich glatt. Vielleicht nicht ganz so kommerziell und es wird weniger Fleisch gezeigt, aber vor sieben Jahren war das noch nicht ganz so offensiv. Die Musik war damals politisch gefärbter, alle nach freien Formen suchenden Bands waren automatisch Underground. Jetzt hat alles einen kommerziellen Touch."
Ich frage Soybelman nach einer der wenigen russischen Avantgardebands, die im Westen bekannt wurden und auch Niveau hatten: Zvuki Mu, eine Gruppe um den charismatischen Sänger Peter Mamonov, eine Art Moskauer Jim Morrison, die 1989 auf Brian Enos Opal-Label eine LP herausbrachten.
"Kurz nach ihrer von Brian Eno veröffentlichten Platte trennten sich Zvuki Mu. Der Sänger Mamonov ist aber nach wie vor eine Kultfigur in der russischen Szene. Er macht jetzt hauptsächlich Theaterarbeit, auch Filme, und hat nur noch mit seinem Bruder Alexej ein Musikprojekt. Er lebt aber hauptsächlich vom Übersetzen skandinavischer Literatur."
Vor einigen Monaten erschien die zweite Ne Zhdali-CD Hey, Driver, cool down the Horses!!! (abgesehen von einer russischen LP mit Rhinoceros-Stücken und einigen hörenswerten Demos ihrer Theatermusik). Auch hier wieder rotziges Vorwärtsgaloppieren, aber mit Stil. Zum Beispiel They are also sad in China: eine sentimentale Gitarrenmelodie wird in dosierten Abständen von brutalen Breaks, Marschrhythmen oder Kosakenchören umspült. Bei dieser Musik kann man nicht einschlafen, höchsten dauernd vor Schreck zusammenfahren. Solche Kontraste gibt es meist nur bei Filmmusiken, die im harten Schnittwechsel den Einfall des Bösen in unsere spießige Welt ankündigen. Rhinozerose eben - manchmal unbeweglich vor sich hin dösend, aber wenn sie losrennen, alles niedertrampelnd.
Diskograf ie
Rhinoceroses and other forms of life, Semaphore/ADM 1989
Ne Zhdali, russischeveröffentlichung 1990
Hey, Driver, cool down the Horses'."., RecRec / EFA 1994
Leonid Soybelman: juliki, Cave 12 Disque / RecRec Music Zürich, 1994