Schwabische Zeitung (28.04.97)

Gewaltig rumort und ins Roxy ausgespuckt


Aus Estland ist eine Band in die Reihe Materialausgabe der Ulmer Roxy-Hallen gekommen: „Ne Zdhali", eine Band, die - so wurde sie angekündigt - „wie eine vollends durchgeknallte Dorfkapelle " klingt.

Von unserer Mitarbeiterin Hilde Steinfurth

ULM - Daß sich progressive Rockmusik nicht nur im Westen aus einem großen Haufen Individualismus schält, läßt sich bei der Materialausgabe im Roxy stets aufs Neue erfahren. So etwa jetzt, daß der estnische Underground musikalisch gewaltig rumorte und dabei eine Gruppe wie „Ne Zhdali" in Richtung Ulm ausspuckte.

Isolation in Estland

Als Avantgarde-Combo würde man sie hier begreifen, lebten diese Musiker nicht in extremer gesellschaftlicher Isolation als russische Minderheit in einem Kleinstaat, der seine Unabhängigkeit zwischen Fanatismus und Naivität entwickelt. So kommt es, daß sie vollkommen marktunabhängig nach ihren Wurzeln und ihrer künstlerischen Freiheit suchten, bevor sie sie erstmals im Westen präsentierten mit der Platte „Rhinozerosos and other forms of life" von 1989. Großes Staunen hub an: Man mochte das Gehörte kaum glauben.

Ihr Stilmix erscheint uns als eine Art Collage von Avantgarde-Jazz eines John Zorn oder des Willem Breuker Kollektiefs mit dem Rock von Frank Zappa, der Leningrad Coyboys und von Palinckx. „Das haben Sie nicht erwartet!", so scheint diese Musik zu frotzeln, und genau solches will uns der Bandname auch sagen.

Eine bunte Mischung

Als musikalisch Heimatlose, im Westen und Grenzgänger der Rockmusik im Osten, treiben sie es mit Zirkusmusik, Free Music, Folklore, Noise, Punk und improvisierter Musik. Für Leonid Soybelmann, den Sänger und Gitarristen, und seine Crew bedeutet dies, alles zu spielen, was ihnen gerade gefällt und scheinbar unverbindbare Elementen so zu variieren. Dies ist der Ansatz, mit dem diese Musik eine geradezu verrückte Atmosphäre erzeugt.

Auch Volksmelodien werden nicht etwa einfach ironisieren, sie werden mit gewisser Distanz eingepaßt in ein Konzept komponierter Musik mit erstaunlich lebendigem Rock'n'Roll-Gefühl, das man nur meint, längst schon zu kennen. Mitnichten : Die pfeifen uns was, die setzen Segel und surfen klappernd und schrubbend durch eine infernalisch kreischende Endzeitstimmung.

Bumsfidele Folk-Zitate

Sie dröhnen den Twist der 60er Jahre förmlich platt mit völlig quergelenkten Bossa-Varianten. Wütenden Lärm-Attacken stehen wechselweise folkloristischen Perlen und ein Free Jazz-Gebläse, bumsfidele Volksmusik und geschnatterte Gesänge in Turbo-Tempo gegenüber. Der aufregend vielseitige Gitarrist fingert dabei geschickt an Knöpfen und Reglern seines elektronischen Instrumentariums, oder er patscht mit Breitseite auf die Tasten eines Kinderkeyboards.

Bläser stehen daneben, die zig andere Instrumente auch spielen, und ein Bassist, der mit geradezu stoischer 'Ruhe auch die Baßdrum klopft, derweil ein Posaunist die Becken mit wildem Scheppern aufmischt. Der Schlagzeuger mußte nämlich zu Hause in Estland bleiben, weil er kein Visum nach West bekam. Sein Partwurde deshalb locker aufgeteilt zwischen dem Rest der Band.

Ein Geniestreich

Und siehe da: Es wäre im Roxy niemanden aufgefallen, so frisch und knackig klang ihr wahnwitziger Reigen unterschiedlichster Stücke. Chief Soybelman und seine Surfband haben einen Geniestreich zustande gebracht, der westlichen Perfektionismusstrebern eine ellenlange Nase zieht.